Leichte Sprache in der Medizin: Aufklären ohne Angst zu machen

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Medizinische Aufklärungsbögen haben die Funktion, ein Krankenhaus oder ein Pharmaunternehmen rechtlich abzusichern. Gleichzeitig soll Patient*innen keine Panik gemacht werden. Beides zu erreichen, ist gerade in Leichter Sprache eine Herausforderung.

Informationen zu verstehen ist eine der Voraussetzungen, damit wir selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Leichte Sprache ist ein Mittel, dies zu erreichen. Das allein sollte Argument genug sein, damit Aufklärungsbögen, Beipackzettel und andere Informationstexte aus der Medizin in Leichter Sprache angeboten werden.

Es gibt aber auch einen ganz pragmatischen Grund: Diese Texte haben auch die Funktion, ein Krankenhaus oder ein Pharmaunternehmen rechtlich zu schützen. Zum Beispiel vor möglichen Schadenersatzansprüchen.

Wenn die Informationen aber nicht verstanden werden, ist niemand abgesichert. Denn:

Jeder medizinische Eingriff ist rechtlich gesehen eine Körperverletzung. Nur durch die Einwilligung der Patient*innen sind Eingriffe legal. Wirklich in etwas einwilligen kann ich aber nur, wenn ich verstehe.

Dies scheint vielen medizinischen Dienstleistenden nicht bewusst zu sein (man denke nur an die extrem leser*innenfeindliche Gestaltung von Beipackzetteln).

Beschreibungen, die Angst machen

Es geht also um Rechte und um rechtliche Absicherung. Medizinische Aufklärungsbögen in Leichter Sprache bergen aber auch die Gefahr, Ängste zu schüren.

Theoretisch denke ich: Leichte Sprache sollte nur die Form und nicht den Inhalt ändern. Die Zielgruppe der Leichten Sprache hat ein Recht auf eine vollständige Übertragung. Alles andere wäre gefährlich und bevormundend. Praktisch aber habe ich ein Dilemma festgestellt:

In Leichter Sprache gibt es kein Verstecken hinter medizinischem Fachchinesisch. Eine vollständige Ausformulierung aller Details kann unerwünscht plastisch und dadurch einschüchternd sein.

Beispiel aus einem Betreuungsvertrag

Ein kleines Beispiel: Ich sollte die vorvertraglichen Informationen für einen Betreuungsvertrag in Leichte Sprache übertragen. Ein langer, grausig schwerer Abschnitt beschäftigte sich mit allen Eventualitäten, in denen Bewohner*innen die Einrichtung verlassen müssen. Das ging von besonderem medizinisch-pflegerischem Versorgungsbedarf, bei dem das Absaugen von Bronchialsekreten oder die Pflege einer Trachealkanüle nötig sei, bis zu schweren Hirnschäden aufgrund jahrelangem Drogen- oder Alkoholmissbrauch.

In Leichter Sprache wurden daraus seitenlange schauderhafte Beschreibungen. Hier ein kleiner Ausschnitt:

Originaltext

Suchtmittelabhängigkeit, chronisch mehrfach geschädigte Alkoholiker, Morbus Korsakoff

Die Krankheitsbilder zeichnen sich dadurch aus, dass der Betroffene psychische und organische Beeinträchtigungen aufweist, die oft zu Desorientierung, Gedächtnisstörungen, Selbstvernachlässigung und nicht selten zu aggressivem oder autoaggressivem Verhalten führen.

Der Ausschluss muss erfolgen, weil die mit den Kostenträgern geschlossenen Vereinbarungen diese besondere Leistung nicht vorsehen. Entsprechend sind auch nicht die erforderliche erhöhte Personalausstattung bzw. die Refinanzierung des erforderlichen spezialisierten Personals zur fachgerechten Betreuung der Betroffenen mit den öffentlichen Kostenträgern vereinbart. Dem besonderen Betreuungsbedarf kann nur in spezialisierten Einrichtungen mit dafür spezifisch qualifiziertem Fachpersonal entsprochen werden.

Der Ausschluss hat zur Folge, dass in dem Fall, dass der Bewohner die entsprechenden Erkrankungen aufweist, der Wohn- und Betreuungsvertrag beendet werden muss und ein Umzug erforderlich wird.

Leichte Sprache (Entwurf 1)

Wann müssen Sie ausziehen?

Sie haben Morbus Korsakoff?
Dann müssen Sie leider ausziehen.

Morbus Korsakoff kommt von einem Schaden im Gehirn.
Der Schaden kommt von sehr viel Alkohol.
Oder von anderen Drogen wie LSD.

Menschen mit Morbus Korsakoff vergessen alles.
Sie vergessen zum Beispiel zu essen oder oder auf Toilette zu gehen.
Oft sind diese Menschen schnell wütend.
Und oft verletzen diese Menschen sich selbst.

Wir können uns nicht um Menschen mit Morbus Korsakoff kümmern.
Wir bekommen für die Pflege von Menschen mit Morbus Korsakoff kein Geld.
Diese Menschen brauchen Hilfe von Experten für ihre Krankheit.
Dafür gibt es besondere Einrichtungen.

Feedback des Auftraggebers

Nach Durchsicht des ersten Rohentwurfs, merkte der Auftraggeber zurecht an:

„Für den zu Grunde liegenden Text wurden uns die Aussagen nahegelegt, weil nur so für den Fall eines möglichen späteren Konflikts bestimmte mögliche Schadensersatzforderungen abgewehrt werden können. Diesen Anspruch müssen wir an den Text in leichter Sprache nicht erheben, denn ihm fehlt die für diesen Effekt erforderliche Rechtsrelevanz. Statt dessen aber wirkt die Liste der Grausamkeiten abschreckend.“

Verständlich, dass zukünftige Bewohner*innen nicht gleich wieder vergrault werden sollen. Also haben wir den ganzen Abschnitt auf einen kurzen Abschnitt eingedampft.

Schließlich einigten wir uns auf diese Lösung

Wann müssen Sie ausziehen?

Vielleicht werden Sie sehr krank.
Vielleicht brauchen Sie dann sehr viel Hilfe.
Dann können wir uns vielleicht nicht genug um Sie kümmern.

Zum Beispiel, wenn Sie sich gar nicht mehr bewegen können.
Und deshalb immer jemand bei Ihnen sein muss.
Oder, wenn eine Maschine Ihnen Luft in die Lunge blasen muss.
Oder, wenn Sie sich selbst oder andere Menschen ständig verletzen.

Dann haben wir vielleicht nicht genug Pfleger und Pflegerinnen.
Oder nicht die nötigen Maschinen.
Denn dafür bekommen wir nicht genug Geld.

Deshalb müssen Sie dann vielleicht ausziehen.
Dann können Ihnen andere Leute besser helfen.

Kann Leichte Sprache rechtssicher sein?

Bislang gibt es dazu wenig theoretischen Background zur Frage, ob Leichte Sprache überhaupt rechtssicher sein kann. Meistens ist die Übersetzung in Leichte Sprache deshalb ein Zusatzangebot – so wie im oben beschriebenen Fall. Ein Hilfsmittel, mit dem Empfänger*innen das Original verstehen können. Oft eine Art Ausfüllhilfe. Rechtsgültig ist dann nur das Original.

Diesen Weg wählt zum Beispiel das RKI bei den Aufklärungsblättern zur Corona-Impfung.

Mir ist allerdings ein Inklusionsbetrieb bekannt, der Arbeitsverträge nur in Leichter Sprache anbietet. Auch bei der inklusiven LeiSA-parti-Studie wollten wir die Einverständniserklärung direkt in Leichter Sprache unterschreiben lassen. Es hat uns viel Gehirnschmalz und mehrere Schleifen mit der Ethikkommission gekostet. Sie muss die ethische Unbedenklichkeit der Studie bestätigen, und die korrekte Aufklärung der Proband*innen ist dafür eine Voraussetzung. Das Ergebnis ist eine zweisprachige, ellenlange Version, die leider nicht so funktional ist wie von uns geplant. Aber sie ist rechtssicher.

Rechtssprache soll allgemeingültig sein, aber Leichte Sprache ist konkret

Warum ist es eine Herausforderung, juristische Konzepte in verständliche Sprache zu übertragen? Ein Grund dafür sind gegenläufige Bestrebungen: Einen Text in Leichte Sprache zu übertragen heißt immer auch, abstrakte Konzepte konkret und anschaulich zu machen. Dafür wird oft auf Beispiele zurückgegriffen. Die Rechtssprache will aber ja gerade nicht konkret sein, sondern auf möglichst viele Situationen anwendbar sein.

In der Leichten Sprache gilt: Etwas ist nicht eindeutig? Dann ist auch nicht leicht. Bei den meisten Rechtsstreitigkeiten geht es hingegen gerade darum, ein sehr allgemeines Gesetz auf die eine oder andere Art zu interpretieren.

So kurz wie möglich, so lang wie nötig

In einer Einverständniserklärung oder einem Beipackzettel stehen immer viele furchtbare Nebenwirkungen. Die meisten sind extrem selten. Mein Weltwissen sagt mir deshalb: Das klingt alles dramatisch, es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass mir das passiert. Deshalb vertraue ich auf das Geschick des medizinischen Fachpersonals. Weil ich verstehe, dass der Eingriff wichtig und notwendig ist.

Was aber, wenn Weltwissen fehlt? Oder, wenn jemand schon vorher in Panik ist. Leichte Sprache ist im Schnitt mindestens 3 bis 4 Mal länger als das Original. Eine ellenlange, extrem plastische Darstellung körperlicher Nebenwirkungen scheint da keine gute Idee.

Andere Inhalte von Aufklärungsbögen sind hingegen fundamental: Wie muss ich mich vor und nach dem geplanten Eingriff verhalten? Was darf ich und was darf ich nicht? Was wird genau mit mir gemacht und warum ist der Eingriff nötig?

Nehmen die Ausführungen über mögliche Komplikationen und Risiken zu viel Raum ein, besteht die Gefahr, dass die wirklich wichtigen Informationen im Text untergehen. Denn die Aufmerksamkeitsspanne ist bei der Adressatenschaft der Leichten Sprache oft begrenzt.

Fazit: Aufklären, aber nicht abschrecken

Medizintexte übertragen heißt also immer auch abwägen zwischen aufklären und nicht abschrecken.


Übersetzung von (medizinischen) Rechtstexten in Leichte Sprache

Hast du einen medizinischen Text zu übertragen? Oder einen anderen Text mit rechtlicher Relevanz? Dann wende dich gerne an mich: Kontakt

Übrigens: Die Gedanken zur Rechtssicherheit in der Medizin habe ich aus dem Buch „Leichte Sprache – Barrierefreie Kommunikation in helfenden und beratenden Berufen“ von Vera Apel Jösch.